DREHBUCHAUFSTELLUNG -
DAS MAß FÜR WAHRHEIT IST WIRKSAMKEIT
Tobias Siebert, Vorstandsmitglied des Vebandes Deutscher Drehbuchautoren,sprach mit der Expertin Dr. Claudia Gladziejewski darüber, wann und in welcher Form sich eine Drehbuchaufstellung als Werkzeug für die dramaturgische und kreative Arbeit am Drehbuch eignet.
FRAU GLADZIEJEWSKI, WELCHE FRAGESTELLUNGEN WÜRDEN SICH TYPISCHERWEISE FÜR EINE AUFSTELLUNG EIGNEN?
In allen Stadien der Drehbuchentwicklung, besonders aber im Exposéstadium, bietet sich eine Drehbuchaufstellung v. a. zur Überprüfung der Figuren an. Fragestellungen könnten z. B. lauten: Haben meine Figuren Kraft, sind sie glaubwürdig? Wie geht es meinen Figuren miteinander? Ist ihr Konflikt glaubwürdig exponiert bzw. ausagiert? Im Exposéstadium bietet es sich auch an, grundsätzlich nach der Relevanz des Stoffes zu fragen. Hierbei ist der Zuschauer besonders wichtig, dessen Stellvertreter danach befragt werden kann, ob ihn die Story interessiert, zu welcher Figur er sich besonders hingezogen fühlt, auch welcher Aspekt der Handlung ihn gerade neugierig macht (was meist auch ohne Befragung, allein aus dem Verhalten des 'Zuschauers' in der Aufstellung deutlich wird). In der Treatment- und Drehbuchphase können auch gezielt Schwachpunkte der Handlung unter die Lupe genommen werden. Z. B. Warum 'hängt' die Story hier? In der Drehbuchphase können auch einzelne Szenen auf ihre Relevanz für Handlung und Figuren und auf ihre Stimmigkeit in sich überprüft werden. Und was für die grobe Plotstruktur funktioniert, kann genauso auf die Dramaturgie einzelner Szenen angewendet werden. Immer wieder beliebt ist die schwierige Frage nach dem Schluss. Dazu wird die Handlung quasi 'vorgespult', und man schaut, wo es die Figuren am Ende hinzieht. Typischerweise drängt jede Figur nach einer für ihn vorteilhaften Auflösung. Das muss nicht immer ein Happy End sein. Eine systemisch besonders belastete Figur kann es z. B. auch in den Tod ziehen. Auch das klassische Problem des multiplen Schlusses kann in einer Drehbuchaufstellung gelöst werden. Es zeigt sich in der Regel glasklar, welcher der Schlüsse, zwischen denen sich der Autor nicht entscheiden kann (und die er oft versucht, miteinander zu verknüpfen, was das Buch gewöhnlich schwächt) am meisten Kraft hat.
WELCHE FRAGESTELLUNGEN KÖNNEN AUSSCHLIEßLICH MIT DER METHODE DER AUFSTELLUNG BEANTWORTET WERDEN?
Keine der Fragen kann
ausschließlich durch eine Aufstellung beantwortet werden, sonst gäbe es ohne Aufstellung keine guten Bücher. Aber eine Drehbuchaufstellung kann die Beantwortung dieser Fragen erheblich beschleunigen und vereinfachen. Außerdem ist das Ergebnis in der Regel so naheliegend und plastisch erlebbar, dass die im zähen Ringen um einzelne Szenen erlahmte Motivation des Autors zusammen mit seinen Lebensgeistern zurückkehrt. Er hat das Gefühl, seinen Figuren tatsächlich begegnet zu sein, ist in Dialog mit ihnen getreten und hat dabei oft überraschende Antworten erhalten, auf die er sonst nicht gekommen wäre. Die Figuren sind bekanntlich das A und O einer Geschichte, und hier setzt die Drehbuchaufstellung an. Es zeigt sich gnadenlos, wo den Figuren eine Handlung nur aufgepfropft wird, anstatt sich aus den Figuren zu entwickeln, wo Figuren nur Stichwortgeber sind oder konstruiert und nicht lebendig wirken. Wenn genug Potential in den Figuren steckt, schütteln sie solche Konstruktionen einfach ab und befreien sich von allem Ballast.
WELCHE ANTWORTEN KANN EIN DREHBUCHAUTOR DURCH EINE AUFSTELLUNG ERHALTEN? KÖNNTEN SIE DAS ANHAND VON BEISPIELEN AUS IHRER REDAKTIONSARBEIT AUSFÜHREN?
Im Exposéstadium: Ein Teilnehmer kam mit einer klassischen Eifersuchtsgeschichte und wollte wissen, ob sein Stoff stimmig und relevant sei. Es zeigte sich, dass die Frauen so kraftvoll angelegt waren, dass sie sich allmählich mehr für einander als für den Mann, das 'Objekt der Begierde', interessierten. Der wurde einfach links liegen gelassen. Nun hatte der Autor die Wahl: Entweder er baut die Figur des Mannes aus und macht ihn interessanter oder er macht etwas aus dieser für ihn neuen Möglichkeit und erzählt eine starke Frauenstory, bei der die Eifersucht nur der Ausgangspunkt ist.
Im Treatmentstadium: Eine Teilnehmerin wollte wissen, warum ihre Liebesgeschichte ab einem bestimmten Punkt nicht mehr richtig funktioniert. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht an dem Paar, sondern an einer Nebenfigur lag, die zu blass und klischeehaft gezeichnet war. Das erotische Verhältnis zu dieser blassen Figur beschädigte die weibliche Hauptfigur. Es zeigte sich jedoch in der Aufstellung auch, welches ungeahnte Potential in dieser Nebenfigur steckt. Sie wurde vor den Augen des Autors vom Abziehbild eines Bonzen-Schweins zu einer zwielichtigen, aber dennoch vielschichtigen 'Vaterfigur' für die Protagonistin und zum dunklen Spiegelbild des männlichen Protagonisten. Dadurch entstand ein spannungsreiches Beziehungsdreieck, vor dessen Hintergrund die Liebesgeschichte nicht nur wieder funktionierte, sondern auch noch an Tiefe und Dramatik gewann.
Im Drehbuchstadium: Ein Teilnehmer wollte seinen Schluss überprüfen, der ihm nicht dramatisch genug erschien. Er hatte noch eine Alternative, mit der er aber auch nicht glücklich war. Nachdem zuvor schlaglichtartig verschiedene Phasen der Geschichte beleuchtet worden waren, ergab sich aus dem Empfinden der Figuren schließlich eine völlig neue, überraschende Auflösung, die den Autor und alle Beteiligten sofort überzeugte: Entscheidend war, dass erst eine Nebenfigur, deren Bedeutung für die Handlung der Autor zunächst unterschätzt hatte, sterben musste, um die Geschichte zu einem stimmigen Ende zu führen. Der Tod dieser Figur löste eine Lawine von Ereignissen und Gefühlen aus, die zur Folge hatte, das jeder am Ende seinen Platz fand.
WIE GEHEN AUTOR, DRAMATURG, PRODUZENT UND REDAKTEUR MIT DEN GEWONNENEN ERKENNTNISSEN AM SINNVOLLSTEN UM?
Die Wirksamkeit der gewonnenen Erkenntnisse hängt von der Aufgeschlossenheit des Autors ab. Je aufgeschlossener ein Autor für neue Ideen ist, desto mehr hat er von einer Aufstellung. Aber keine Angst: Nur sehr selten wird ein Buch durch eine Drehbuchaufstellung grundsätzlich in Frage gestellt. Wer allerdings nur eine Drehbuchaufstellung macht, um Bestätigung für das Geschriebene zu finden, wird naturgemäß enttäuscht sein und wenig mit nach Hause nehmen. In der Regel findet man, was man sucht. Wenn man nur wenig sucht, wird man auch nur wenig finden. Im schlechtesten Fall liefert eine Aufstellung 'nur' Anregungen und Impulse. Es kann mit dieser Methode aber auch ein lange überfälliger Durchbruch erreicht oder sogar eine Schreibblockade gelöst werden. In der Praxis stellt sich nach einer Aufstellung die Frage gar nicht mehr, wie der Autor damit umgehen soll. Er spürt intuitiv, was von dem Erlebten Kraft hat und sich stimmig anfühlt; das wird er dann gern umsetzen. Was nicht auf Resonanz stößt, wird ohnehin verworfen.
DIE METHODE DER DREHBUCHAUFSTELLUNG ETABLIERT SICH GERADE IM BERATUNGSMARKT. WER TRÄGT IN DER REGEL DIE KOSTEN UND WIE HOCH SIND SIE DURCHSCHNITTLICH?
Die Kosten (ab 200 Euro pro Aufstellung) werden bis jetzt viel zu oft noch vom Autor selbst getragen, wogegen auch nichts einzuwenden ist, sofern dieser angemessen für seine Arbeit entlohnt wird. Aufgeschlossene Produzenten, die wissen, wie wichtig die Arbeit am Drehbuch ist und wie sehr sich auch wirtschaftlich eine Investition lohnt, die die Entwicklung eines Drehbuches beschleunigt und vertieft, übernehmen die Kosten für ihren Autor und begleiten ihn zur Aufstellung. Das kommt zum Glück immer häufiger vor. Die Kosten für eine Einzelberatung richten sich naturgemäß nach dem Zeitaufwand. Eine Einzelstunde kostet durchschnittlich ab 100 Euro. Darüber hinaus ist eine weiterführende dramaturgische Beratung im Kontext der Aufstellung möglich und sinnvoll, wird allerdings selten angeboten.
WIE IST DIE DERZEITIGE AKZEPTANZ DER METHODE BEI FERNSEHREDAKTEUREN UND KINOFILMPRODUZENTEN? UND NACH WELCHEN KRITERIEN MUSS MAN DAS ANGEBOT EINER DREHBUCHAUFSTELLUNG PRÜFEN, UM SICHERZUGEHEN, DAß SICH DIE INVESTITION LOHNT?
Noch gibt es eine gehörige Portion Skepsis. Die hat viele, z. T. gut nachvollziehbare Ursachen: Zum einen ist diese Methode noch recht neu, und das auf einem Markt, auf dem immer viel Neues und nicht immer sehr Wirkungsvolles angeboten wird. Dann hat es eine Methode, die wissenschaftlich (noch) nicht vollständig erklärbar ist, immer besonders schwer sich durchzusetzen, selbst wenn sie nachgewiesenermaßen gut funktioniert. Und schließlich gibt es leider noch keine klare Definition, was eine Drehbuchaufstellung eigentlich ist. Der Begriff ist ungeschützt, d.h. im Prinzip kann sich jeder 'Drehbuchaufsteller' nennen, der irgendwelche Stellvertreter aufmarschieren lässt. Es ist für einen Laien nicht leicht zu beurteilen, hinter welchem Angebot sich eine seriöse, produktive Beratungsleistung verbirgt.
Es gibt aber einige Kriterien zur Überprüfung: 1. Eine Drehbuchaufstellung arbeitet grundsätzlich nicht mit Schauspielern (wobei es für einen Produzenten oder Regisseur sinnvoll sein kann, seine Schauspieler zur Aufstellung mitzunehmen und es ihnen zu ermöglichen, die Position 'ihrer' Figur in der fertigen Aufstellung einnehmen zu lassen. Und natürlich sind Schauspieler als Stellvertreter auch nicht schlechter geeignet als andere Teilnehmer, solange sie eben nicht versuchen zu 'schauspielern'). 2. Der Anbieter sollte sowohl ein erfahrener Aufsteller sein (in aller Regel Familientherapeut oder Organisationsaufsteller), als auch ein erfahrener Dramaturg. Um eine Drehbuchaufstellung sinnvoll leiten zu können, sollte man schon einige Erfahrung mit Dramaturgie und der Film- und Fernseh-Industrie vorweisen können. Allerdings verfügt derzeit hierzulande kaum einer über genügend Erfahrung in beiden Bereichen. Die Vita des Anbieters gibt hierüber Aufschluss. Und: Mundpropaganda ist nicht die schlechteste Entscheidungshilfe.
WAS LEISTET DIE METHODE FÜR EINEN ANFÄNGER IM DREHBUCHSCHREIBEN UND WAS LEISTET SIE FÜR EINEN MEISTER?
Die Aufstellung nimmt dem Autor nicht das Schreiben ab und vermittelt auch keine Schreibtechniken. Es ist eine rein inhaltliche Arbeit am Buch. Insofern ist die Methode grundsätzlich für jeden geeignet, der seinen Stoff überprüfen will, ob Anfänger oder erfahrener Autor. Drehbuchaufstellungen sind darüber hinaus aber auch für Teilnehmer interessant, die keinen eigenen Stoff mitbringen. Aufstellungen sind eine Quelle der Inspiration für das eigene Schaffen und ein direkt erlebbarer Einblick in dramaturgische Zusammenhänge, gerade für Anfänger. Einige Drehbuchaufsteller bieten pro Seminar einer begrenzten Anzahl von Teilnehmern ohne eigene Aufstellung eine günstigere Teilnahme an ('Hospitanz', ab 50 Euro). Als Stellvertreter die Dynamik einer Aufstellung und eines guten Stoffes 'live' zu erleben, kann gerade für Anfänger sehr reizvoll sein. Und ein wahrer Meister zeichnet sich durch die Erkenntnis aus, dass es immer noch etwas zu verbessern und dazuzulernen gibt.
WIE GRENZT SICH DIE DREHBUCHAUFSTELLUNG VON ANDEREN AUFSTELLUNGSFORMEN AB UND WARUM FUNKTIONIERT SIE?
Eine Familienaufstellung oder die Organisationsaufstellung zielt auf eine für alle real beteiligten Personen zufriedenstellende Lösung des Problems, seien es nun die Mitglieder einer Familie oder die Mitarbeiter/Kunden eines Betriebes. Ein Drehbuch dagegen lebt von Konflikt. Ließe man die Stellvertreter ungehindert ihren Impulsen nachgeben, so würden die Konflikte aus der Geschichte verschwinden und damit auch die Spannung. Die Kunst der Drehbuchaufstellung besteht also darin, die Stellvertreter so zu führen, dass die Spannung erhalten bleibt. Das erfordert ganz andere Techniken als bei der klassischen Familien- oder Organisationsaufstellung. Obwohl die Figuren 'nur' fiktional sind, ist die physische und psychische Belastung für die Stellvertreter in einer Drehbuchaufstellung oft wesentlich höher als in einer Familienaufstellung.
Die Wissenschaft interessiert sich aktuell sehr für das Phänomen des 'wissenden Feldes', das der Aufstellungsdynamik zugrunde liegt. Es handelt sich dabei um einen Informationsfluss, der bislang noch nicht hinreichend erforscht ist. Es gibt allerdings inzwischen empirische Belege für die Wirksamkeit von Aufstellungen, die an tausenden von Fällen verifiziert wurden. Doch ist man bislang noch weit davon entfernt, das Phänomen dieses Informationsflusses physikalisch nachweisen oder erklären zu können. Bis man die Funktionsweise von Aufstellungen restlos ergründet hat, bleibt die Maxime: 'Das Maß für Wahrheit ist Wirksamkeit.'
Das Interview ist mit einem Erfahrungsbericht erschienen in der Mitgliederzeitschrift des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren
SCRIPT 1/2004.